Von allen Vögeln, die ich bisher pflegen durfte, ist der Graupapagei der Außergewöhnlichste.
Kaum ein Vogel hat einen derart prüfenden Blick. Kaum ein Vogel kann mit dem Menschen so eindrucksvoll kommunizieren. Im allgemeinen wird Tieren Bewusstsein und Vernunft abgesprochen. Natürlich sind sie, auch die Intelligentesten, nicht in der Weise begabt, wie der Mensch. Aber der Graupapagei kann sagen was er möchte. Eindrucksvoll berichtete Irene Pepperberg über ihren Grauen Alex (der leider an einer Krankheit gestorben ist). Er konnte zählen, Farben erkennen und benennen, Gegenstände gezielt nennen und das Erstaunlichste, er konnte neue Wortschöpfungen kreieren. Er ist also sogar in einem Punkt begabt, der nur dem Menschen vorbehalten ist: Erfindung abstrakter Begriffe.
Graupapageien haben den Intellekt eines dreijährigen Kindes. Sie brauchen ständig Beschäftigung, sie langweilen sich schnell, sie haben Verlustängste, Beziehungskrisen, sie reagieren wie kleine Kinder auf Frust mit Aggression, Trotz, Insistieren und schließlich mit Selbstzerstörung. Sie haben die Fähigkeit unser Verhalten richtig zu interpretieren. Dennoch sind ihre Bedürfnisse so, dass es eine beinahe unlösbare Aufgabe eines Papageienhalters ist, diese adäquat zu erfüllen. Irene Pepperberg hat ihn als Einzelvogel gehalten. Alex war ein Wildfang, den sie in einem Zoogeschäft gekauft hat. Sie hat ihm mit gezieltem Training diese ganzen kognitiven Fähigkeiten entlockt. Sie hat sich wirklich sachkundig um ihn gekümmert und hingebungsvoll mit ihm befasst. Aber der Papagei hat an Vitalitätsverlust gelitten. Das Denken hat ihm seine Lebenskräfte entzogen. Daher wurde er krank. Vielleicht irre ich auch. Pepperberg will den Versuch mit weiteren Papageien fortsetzen. Mal sehen, wie diese es verkraften.
Mein erster Graupapagei war eine Teilhandaufzucht. Die Züchterin entnahm die Jungen den Eltern, weil diese vor Beendigung des ersten Durchlaufs neu brüten wollten und die Jungen vernachlässigten. Benjamin war aus der ersten Brut, Boni aus der Zweiten. Die beiden waren so individuell, wie man es sich nicht besser vorstellen kann. Beni war extrem anhänglich und bekämpfte seinen jüngeren Bruder als Rivalen. Boni war ein Sonnenschein, der immer gute Laune hatte. Im Übermut tobte er in seinem Käfig (ja damals lebten sie in einem Solchen, bekamen aber täglich viele Stunden Freiflug im Haus). Dabei zerschliss er seine Schwungfedern. Das nutzte ich als Gelegenheit, ihn mit auf Spaziergänge zu nehmen, sogar Fahrrad ist er mit mir gefahren. Solang er auf meiner Schulter saß, gefiel es ihm. Setzte ich ihn in einen Baum, wurde es ihm ängstlich und er wollte zurück. Beni konnte fliegen. Leicht und gewandt flog er um die Ecken, durch Flure und verfolgte mich überall hin. Er kroch mir unter den Pullover. Ich konnte ihn mit unter die Dusche nehmen. Ich habe mit ihnen gelebt, wie mit kleinen Kindern.
Beni wurde so anhänglich, dass er schon irgendwann zur Last wurde. Ich konnte nicht immer mit ihm so eng zusammen sein. Das war für ihn ein echtes Problem. Für mich auch. Die schlechte Laune von Beni wurde immer deutlicher. Immer öfter musste er in seinen Käfig. Es zerriss mich förmlich, weil ich einen Spagat zwischen ihm und meinen eigenen Bedürfnissen machen musste. Eines schönen Sommertages, als ich sie in den Garten stellte, damit sie etwas frische Luft hatten, machte Beni etwas, was er vorher nie geschafft hatte: Er entriegelte die Sicherung seiner Käfigtür und dann die Käfigtür selber. Aber anstatt zu mir zu fliegen, was er sonst immer tat, wenn er Freiflug hatte, flog er in die Bäume. Ich rief und pfiff, aber er schaute nur herunter, nicht traurig oder ängstlich kam es mir vor sondern verächtlich. Er machte sich davon. Alles Suchen hatte keinen Erfolg, er blieb verschollen. Boni genoss den Frieden. Aber er hatte nun auch keine Unterhaltung mehr. Er wurde sehr still. Ich gab ihn einer Züchterin, die eine ganze Scheune für die Vögel hatte. Ich wollte keine neuen Papageien. Ich musste feststellen, dass ich diesen intelligenten Tieren nicht gerecht werden konnte. Für eine geeignete Unterkunft, wo sie als natürliche Tiere genügend Platz gehabt hätten, hatte ich keine Möglichkeit.
Geschichten hätte ich genug. Gleichzeitig hatte ich auch andere Vögel in Käfigen: Amazonen, Nymphen, Wellensittiche und Zebrafinken. Die Vögel hatten bei ihrem Freiflug Gelegenheit, sich gegenseitig zu besuchen. Sie schauten nach, was der andere so im Futternapf hatte. Die Amazonen waren halbzahme Wildfänge, die sich selbst genügten. Sie beanspruchten mich kaum. Aber zu allem Unglück entkam Conan, die Venezuela-Amazone der Urlaubsvertretung. Ihn fand ich im Park 3 km weit weg. Einfangen war unmöglich. Irgendwann war er ganz verschwunden. Seinen Kumpel, gab ich an eine Papageienauffangstation.
In dieser Zeit mit den Papageien habe ich sehr intensiv mit ihnen gelebt und viel von ihnen über sie gelernt. Ich kann mit Fug und Recht sagen, dass es nichts Schlimmeres für einen Papagei gibt, als in eine Beziehungsabhängigkeit mit dem Mensch zu geraten. Sie können sich ja nicht mehr daraus befreien. Wir Menschen werden ihnen nicht gerecht. Wir können diese Tiere nur frustrieren, auch wenn wir es nicht merken. Aber wir können uns mit ihnen auf unbefangener Ebene beschäftigen, ohne sie zu nötigen. Wir können eine ungezwungene Beziehung zu ihnen aufbauen, ohne sie in ihrem Tiersein zu nötigen. Wir können sie zum Spielen animieren, sie werden zahm und lernen sogar sprechen, was aber auf reiner Nachahmungsebene bleibt. Und trotzdem können die Papageien ohne Leid in unserer Obhut leben. Dazu bedarf es eines großen Geheges für ihren Bewegungsdrang, viel Anregung für ihre Sinne, einer wirklich zuträglichen Diät (für Graue anders als für Amazonen), und einer genauen Einhaltung von Tagesrhythmus. Dann bedarf es viel Geduld um das Vertrauen der Tiere zu gewinnen. Aber wir haben ja Zeit. Papageien und Menschen werden ungefähr gleich alt.