Übersprungshandlung

  • Die "Übersprungshandlung":


    Nico Tinbergen, Nobelpreisträger und einer der bedeutendsten Verhaltensforscher des vorigen Jahrhunderts, hat es geradezu meisterhaft verstanden, selbst komplexeste Verhaltensweisen der Tiere (ihre Entstehung, ihren Sinn und ihre Ausgestaltung) einfach und brilliant zu beschreiben. "Übersprungshandlungen" werden meist dann gezeigt, wenn eine konkrete Entscheidung des Tieres zu einer bestimmten Handlung durch mehrere gleichzeitig einwirkende Reizsituationen nicht möglich scheint. Auch (und vielleicht gerade) unter Haltungsbedingungen kann man bei Papageien derartige "Übersprünge" (die wir schließlich bei uns selbst zur Genüge kennen) beobachten.


    Tinbergen: "In schwierigen Situationen handeln Vögel und Menschen gleich. Vögel und Menschen unterliegen den gleichen emotionalen Konflikten, sobald sie einerseits durch Zorn vorangetrieben werden und andererseits gleichzeitig durch Furcht oder andere Gemütsbewegungen zurückgehalten werden. Interessanterweise ist das Verhalten in beiden Fällen auffallend ähnlich. Drei der Möglichkeiten, wie Vögel auf Konflikte reagieren, sind unten dargestellt (vgl. Bildanhang "uebersprung_vogel"). Die entsprechenden menschlichen Reaktionen werden rechts auf der gegenüberliegen Seite gezeigt (vgl. Bildanhang "uebersprung_mensch"). Durch eine Übersprungshandlung wird in belangloser Weise auf einen Konflikt reagiert. Der Star in der oberen Zeichnung putzt angesichts eines Rivalen sein Gefieder, statt zu kämpfen oder zu hacken. Bei einer Mosaikbewegung unternimmt ein Vogel den Versuch, verschiedene Handlungen gleichzeitig auszuführen. Es gelingt ihm jedoch nicht, auch nur eine davon vollständig zu beenden. Das mittlere Bild stellt eine aufgebrachte Möwe dar, die ihren Kopf zum Zuhacken gesenkt hat und die Flügel zum Schlagen bereithält, jedoch in dieser Haltung gleichsam erstarrt ist. Im dritten Fall richtet ein Tier seine Gefühle gegen ein Ersatzobjekt. Eine Amsel pickt wütend nach einem Blatt statt nach einem Rivalen."


    "Bei den Menschen lassen sich ähnliche Ausdrücke innerer Konflikte finden - und leicht beobachten. Ein Beispiel für eine Übersprungshandlung liefert uns ein ärgerlicher Mensch, der nicht in der Lage ist, seine Gefühle direkt zu äußern, sondern sich den Kopf vor Verlegenheit kratzt. Er kann stattdessen auch sogenannte Mosaikbewegungen ausführen, indem er die Fäuste ballt, drohend einen Schritt vorwärts macht, dazu jedoch in dieser feindlichen Stellung verharrt, ohne seine Handlungen zu vollenden. Er kann aber auch seine Gefühle an einem Ersatzziel auslassen, beispielsweise an einem Tisch, auf den er mit der Faust schlägt - was im Grunde genauso unangemessen ist wie das Picken der Amsel nach dem Blatt."


    Quelle:
    Tinbergen, N. (1966): Tiere und ihr Verhalten, TIME LIFE International (Nederland) BV, S. 90, 91


    Ich würde mich freuen, wenn User/innen diesbezüglich Beobachtungen an "ihren" Papageien (möglichst unter kurzer Beschreibung der auslösenden Situation) schildern könnten.


    Gruß
    Heidrun