Papageien / Gehirn und Hirnleistungen:
Zu Aufbau und Struktur vgl. angehängte Darstellung.
Aktuelle Arbeiten aus den Bereichen der anatomischen Gehirnforschung und der Tierkognition belegen, daß es sich bei Vogelhirnen um sehr vielschichtige, flexible und leistungsfähige Organe handelt, die denjenigen hochentwickelter Säugetiere durchaus ebenbürtig sein können. Nach wie vor unterschiedlich ist lediglich die Auffassung darüber, wie Vogelgehirne konkret funktionieren. Insbesondere die Funktion der oberen Cluster im Vogelhirn ist strittig. Von Harvey Karten und anderen wird vermutet, daß eine Analogie zu den Schichten im Säugetierhirn besteht. Sensorische Informationen finden bei Säugern Eingang in den Thalamus und werden von dort an das Großhirn geleitet. Auch bei Vögeln landen die Informationen laut Karten zunächst im Thalamus und werden von dort zu höheren Clustern weitergeleitet und verarbeitet. Eine zweite Forschergruppe geht davon aus, daß die oberen Cluster des Vogelhirns in ihrer Funktion analog zur sog. "Vormauer" (Claustrum) und dem Mandelkern (Corpus amygdaloideum) von Säugerhirnen zu sehen sind. Hierzu Georg Striedter (STRIEDTER, 1998 ) "Bei Säugern bleibt der Mandelkern auf das emotionale System beschränkt, bei Vögeln ist er nicht mehr nur emotional, sondern wird Bestandteil der Intelligenz."
Eine Gruppe von 29 Wissenschaftlern hat in 2005 neue Ergebnisse der Forschung zur Anatomie und Funktion des Vogelhirns veröffentlicht (Avian Brain Nomenclature Consortium, 2005). Nach ihren Ergebnissen ist das "Gehirn der Vögel ungemein vielschichtig und zugleich flexibel und ebenso erfinderisch wie das Gehirn von Säugetieren." ORTEGA & BEKOFF (1987) merken an, daß bei Papageien und Passerinen, für die umfängliche Sozialspiele dokumentiert sind, das Gehirnvolumen entsprechend größer ist als bei anderen Arten.
Gedächtnisleistungen bis hin zu Merkfähigkeit einer hohen Anzahl teils sehr komplexer Muster - so können beispielsweise Tauben bis zu 750 verschiedene Muster erinnern und offenbar kontextual zuordnen (VON FERSEN, 1989) - sind mittlerweile für nicht wenige Arten dokumentiert. Erwähnt sei hierzu auch eine Arbeit von Vaughan & Greene aus 1984. Auch die Verfügbarkeit eines sogenannten "episodischen Gedächtnisses" wird mehrfach, so zum Beispiel von CLAYTON (1998 ) in Bezug auf den Buschhäher beschrieben. Nathan Emery und Nicola Clayton von der Cambridge-Universität in England verglichen die kognitiven Möglichkeiten und Leistungen von Krähen und Affen und kamen zu dem Ergebnis, daß in Relation zum Körpergewicht das Krähenhirn in etwa die gleiche Größe wie das Affenhirn einnimmt und die kognitiven Leistungen von Krähen nicht nur wegen des dokumentierten Werkzeuggebrauches durchaus einem Vergleich mit denjenigen der Affen standhalten (EMERY & CLAYTON, 2004). IWANIUK (2005) kommt zu dem Ergebnis, daß auch Papageien in Relation zur Körpermasse im Verhältnis zu einigen Primaten über ein entsprechend großes Gehirnvolumen mit leistungsfähigen Komponenten verfügen. Nach PEARSON (1972) verfügen Papageien in Relation zur Körpermasse sogar über die größten Gehirne aller Vogelarten. Beobachtungen von HA (2003) belegen, daß eine nordamerikanische Krähenart in der Lage ist, Verwandte von Nichtverwandten zu unterscheiden und ihr Verhalten danach auszurichten. Diese Fähigkeit ist (so Ha) noch weitaus komplexer, als "nur" zu erkennen, welche Artgenossen in der gleichen Gruppe leben. MASIN et al (2003) konnen an Hand sonografischer Aufzeichnungen nachweisen, daß die Jungvögel von Poicephalus meyeri spezifische Lautmuster vom Vater in ihr Repertoire übernehmen. Zu gleichen Ergebnissen kamen sie auch in Bezug auf Psittacus erithacus. Diese Arbeiten dürfen als Beleg dafür dienen, daß (zumindest bei beiden vorgenannten Arten) die direkte Nachkommenschaft an dem vom Vater übernommenen Lautrepertoire identifiziert werden kann.
Umfassend wurden die komplexen kognitiven Fähigkeiten von Graupapageien am Exempel des Graupapagei "Alex" von PEPPERBERG (1983, 1987, 1990, 1994, 1999) dokumentiert. Wenn auch die Arbeiten von Pepperberg eines gewissen Anthropomorphismus nicht entbehren, so zeigen sie doch anschaulich, über welch "hochwertige" kognitive Ausstattung (Anmerkung: Ohne diese Grundausstattung wären die betreffenden Ergebnisse nicht zu erzielen) Graupapageien verfügen.
Die Befähigung zu sozialer Intelligenz und Umweltintelligenz ist bei vielen Arten, insbesondere den hochentwickelten Corviden und Psittaciden, zweifelsfrei gegeben. Eines von mehreren (möglichen) Merkmalen sozialer Intelligenz ist in der Organisation in individualisierten Gruppen zu sehen (vgl. EMERY, 2004). Nathan J. Emery (EMERY, 2004, S. 6) orientiert das Maß der sozialen Komplexität an der durchnittlichen Gruppengröße. Emery sieht eine signifikante Korrelation zwischen sozialem Lernen und der Größe des Neokortex, allerdings nicht zwischen durchschnittlicher Gruppengröße und sozialem Lernen und der Größe des Neokortex. Für den Zusammenhang zwischen Gruppengröße, sozialem Lernen und der Größe des Neokortex sei ausschlaggebend, daß sich die Gruppenmitglieder persönlich kennen (individualisierte Gruppe), weil viele soziale Komponenten (wie z. B. soziale Rangordnungen) nur in individualisierten Gruppen zu finden seien. Eine dem Neokortex bei Säugern vergleichbare Region bei Vögeln wurde fast hundert Jahre lang übersehen. Erst jetzt hat man die Nomenklatur geändert. Der alte "Neokortex" heißt nun "Kortex" und ist auch bei Vögeln verfügbar. (NATURE REVIEWS NEUROSCIENCE, 6, S. 135)
Der Biopsychologe Thomas Kalenscher (KALENSCHER, 2005) untersuchte mit seinen Kollegen von der Ruhr-Universität Bochum und einer neuseeländischen Arbeitsgruppe das funktionelle Gegenstück des präfrontalen Kortex bei Vögeln, das sogenannte Nidopallium caudolaterale oder NCL. In ihrer Verschaltung mit sensorischen Eingängen, motorischen Ausgängen und der Anbindung an emotionale Zentren entsprächen sich die beiden Regionen, so Kalenscher. BEAUCHAMP & FERNANDEZ-JURICIC (2004) sind der Frage nachgegangen, ob zwischen der Größe des Vorderhirns von Vögeln und der Gruppenstärke eine Beziehung besteht. Sie fanden keine Anhaltspunkte für einen solchen Bezug. Eigentlich kann das Ergebnis dieser Arbeit nicht wirklich überraschen. Wäre eine diesbezügliche Relation vorhanden, so würde daraus zu folgern sein, daß mit zunehmender Größe der vorderen Hirnareale der Grad der Individualisierung und die Komplexität der sozialen Gefüge zu- und somit die Gruppenstärke abnehmen müßte. Dem stehen die realen (und auch von den Autoren der Arbeit einbezogenen) Beobachtungen entgegen, daß selbst Vögel mit vergleichsweise hoch entwickelten Vorderhirnarealen (wie z. B. Psittacus erithacus) zumindest temporär in sehr großen Gruppen, allerdings ebenso häufig in kleinen Einheiten organisiert sein können.
LORENZ (1935) schreibt in Kapitel VIII seiner zu Unrecht wohl ein wenig in Vergessenheit geratenenn Abhandlung "Der Kumpan in der Umwelt des Vogels": "Bei sehr vielen Vögeln finden wir eine Scharbildung, die weit mehr ist als eine bloße Ansammlung von Individuen. (...) Ganz wie bei den hochstehenden Säugetieren und auch beim Menschen, ist bei den Vögeln ein Großteil der sozialen Reaktionen an das persönliche Sich-Kennen der Individuen gebunden. Daß ein Vogel eine Anzahl von Artgenossen persönlich kennen kann, wissen wir ja schon aus den Arbeiten von Katz, Schjelderup-Ebbe und anderen, die an Haushühnern ihre Versuche angestellt haben. Ich möchte hinzufügen, daß diese Fähigkeit und insbesondere auch das Personen-Gedächtnis bei Vögeln mit höher spezialisierten sozialen Reaktionen, als das Haushuhn sie hat, noch ganz wesentlich höher entwickelt ist." Seine diesbezüglichen Feststellungen beziehen sich insbesondere auf intensive und über lange Zeiträume durchgeführte Beobachtungen des sozialen Gefüges von Dohlen. So schildert er beispielsweise, daß "Dohlen ein zur Brutsiedlung zurückkehrendes Mitglied nach vielen Monaten sofort wieder" (erkennen).
Bereits KATZ & REVESZ (1931) hatten tierexperimentell nachgewiesen, daß das mit einem relativ simplen Gehirnaufbau ausgestattete Haushuhn in der Lage ist, mehr als 20 Artgenossen individuell zu erkennen. Schon neun Jahre zuvor kam SCHJELDERUP-EBBE (1922/23) zum gleichen Ergebnis. Die Resultate dieser Arbeiten haben auch heute noch Bestand und finden sich unverändert in der Lehre biologischer Fakultäten (vgl. u. a. auch POLIKLINIK FÜR VÖGEL UND REPTILIEN, Gießen 2004). Neuere Untersuchungen gehen sogar darüber hinaus und beziffern die Anzahl individuell erkennbarer Artgenossen beim Huhn auf mehr als 100. "Sie können mehr als 100 andere Hühner erkennen und sich an sie erinnern", berichtet Dr. Joy Mench, (MENCH & VAN TIENHOVEN, 1986) Professorin und Direktorin des "Center for Animal Welfare" an der Universität von Kalifornien. Davon ausgehend, daß der relativ einfache Aufbau der Gehirnstruktur des Haushuhnes hinreicht, mehr als 20 (nach differierenden Arbeiten mehr als 100) Exemplare seiner Art individuell zu erkennen, ist die Annahme gerechtfertigt, daß die Anzahl individuell erkennbarer Artgenossen bei Papageienvögeln, die über ein weit komplexeres Gehirn verfügen, auf jeden Fall höher anzusiedeln ist.